Kommentar zur 9. Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung > Reform der Notfall- und Akutversorgung: Rettungsdienst und Finanzierung <

07.09.2023

Die gemeinnützige Deutsche Gesellschaft für Rettungswissenschaften e.V. (DGRe) wurde 2019 gegründet, um die Forschungskapazitäten und -aktivitäten innerhalb der Rettungswissen-schaften zu professionalisieren und zu erweitern. Sie tut dies, um die Versorgung durch den Rettungsdienst evidenzbasiert, patientenzentriert und nachhaltig weiterzuentwickeln. Sie setzt dabei auf Kooperation, Bildung, Engagement, Information sowie eigene Forschung im und um den Rettungsdienst.

Wir, die Deutsche Gesellschaft für Rettungswissenschaften e. V., begrüßen die Empfehlungen zur Reform des Rettungsdienstes. Die Änderungsvorschläge zur Finanzierung, zur Qualitäts­verbesserung, zur Qualifizierung des Rettungsdienstpersonals, zu den Strukturen der Leitstel­lenlandschaft sowie die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung greifen aus unserer Sicht die wesentlichen Problemfelder im deutschen Rettungsdienst auf.

Wir möchten im Folgenden einige Punkte herausstellen, bewerten und kommentieren.

Die Notfallversorgung vom Notfalltransport finanziell und ggf. auch strukturell zu trennen, hal­ten wir für organisatorisch und wirtschaftlich notwendig. Gleichzeitig ist es sinnvoll, alternative Beförderungsoptionen in weitere Gesundheitseinrichtungen zu ermöglichen. Diese müssen nicht notwendigerweise durch den Rettungsdienst erfolgen. Notfallsanitäter:innen sollten situationsgerecht niederschwellige Beförderungsoptionen, ggf. auch zeitlich verzögert, anfor­dern können (z.B. Krankentransport, Liegendtransport oder Taxi). Auf diesem Wege wird es Notfallsanitäter:innen ermöglicht, als Lotsen und Gatekeeper die Notaufnahmen weiter zu entlasten ohne Rettungsmittel länger im Einsatz zu binden als notwendig. 

Wir begrüßen die Idee eines einzurichtenden Pflichtregisters für die gesamte Notfallver­sorgung. Die damit geschaffene Transparenz birgt großes Potential für das überregionale, über­sektorale und professionsübergreifende Qualitätsmanagement. Gleichzeitig erhoffen wir uns daraus neue Optionen für die rettungsdienstliche Versorgungsforschung. Bisher wird die hohe Qualität des deutschen Rettungsdienstes vielfach behauptet, belegt ist sie allerdings häufig nicht. Ein solches Register wird die Diskussion um belegbare Argumente bereichern. Ergänzend möchten wir die Einführung eines ebenfalls umfassenden Risikomanagements (z.B. Critical Incident Reporting System – CIRS) empfehlen.

Die Konzentration und Zentralisation der Leitstellenbereiche erscheint vor dem Hintergrund der Leistungsfähigkeit (z.B. Spitzenbelastung, Großschadensereignisse, Reduktion der Schnittstellen) und der Finanzierung dringend geboten. Wir begrüßen ebenso die angesprochene Integration der Krankentransportdisposition in das Leistungsspektrum der Leitstellen. Dies ist heute nicht allerorts gegeben und reduziert damit die Reaktionsmöglichkeiten der betroffenen Leitstellen auf niedrigprioritäre Hilfeleistungsersuchen.

Wir unterstützen zudem die Schaffung eines grundständigen, bundeseinheitlichen Berufsbildes Leitstellendisponent:in als 3-jährige Ausbildung. Diese Ausbildung sollte beidseitig in Teilen anerkennungsfähig für Ausbildungen im Feuerwehr- und Rettungsdienst sein [3]. Weiterhin wünschen wir uns die Schaffung von Stellen zur medizinischen Lagedienst- oder Schichtführung in den Leitstellen, welche idealerweise durch akademisierte Notfallsanitäter:innen zu besetzen sind.  

Wir begrüßen ausdrücklich die empfohlene Teilakademisierung der Notfallsanitäter:innen. In den Pflegeberufen ist es empirisch belegt, dass mit der Akademisierung eine höhere Berufszufriedenheit, eine höhere Patient:innensicherheit und eine geringere Sterberate einhergeht [1, 2, 7]. Solche Effekte halten wir auch im Rettungsdienst für wahrscheinlich. Neben den Verbesserungen für Patient:innen erwarten wir durch diese Teilakademisierung auch eine Verbesserung für die angespannte Personalsituation. Es kann als empirisch belegt angesehen werden, dass fehlende Aufstiegs-, Weiterentwicklungs- und -bildungsmöglichkeiten einhergehend mit einer entsprechenden Gehaltsentwicklung häufige Gründe für Fachpersonal sind, den Rettungsdienst zu verlassen [5, 6]. Die mit der vorgeschlagenen Teilakademisierung verbundene fachgebundene Heilkundebefugnis wertet das Berufsbild mit den damit einhergehenden Entwicklungsmöglichkeiten deutlich auf. Notfallsanitäter:innen mit Bachelor- oder Masterabschluss werden in der Regel sechs oder acht Jahre rettungsdienstliche Bildung und entsprechende Berufserfahrung absolviert haben und dürften mit Recht als akademische Expert:innen der rettungsdienstlichen Versorgung von Patient:innen angesehen werden.

Die Verlängerung der Ausbildung zur Rettungssanitäter:in auf ein Jahr halten wir für ausgesprochen sinnvoll. Nach Abschluss dieser Ausbildung und einem Jahr Berufserfahrung sollte eine Anrechnungsmöglichkeit für die Ausbildung zur Notfallsanitäter:in gegeben sein. So entsteht eine Aufstiegsperspektive über alle Qualifikationsstufen im Rettungsdienst. Dies dürfte der Personalbindung zuträglich sein. 

Für eine pflegerische sowie sozialpsychiatrische Notfallversorgung empfehlen wir grundsätzlich die Einrichtung und Stärkung von komplementären Fachdiensten, welche direkt durch den Rettungsdienst angefordert werden können (z. B. Notfallpflegedienst, Sozialpsychiatrischer Dienst, Gemeindenotfallsanitäter:in, Notfallpalliativdienst). Diese sollten in bestimmten Fällen (etwa Gemeindenotfallsanitäter:innen oder Fachkräfte der Psychosozialen Notfallversorgung) auch organisatorisch dem Rettungsdienst zugeordnet sein.

Wir befürworten ausdrücklich die neu geschaffene Rechtssicherheit für Notfallsanitäter:innen (§2a NotSanG, §4 Abs. 2 S. 1c NotSanG, §4 Abs.2 S. 2c NotSanG, § 13 BtmG, §6 BtmVV), sehen aber eine sehr individuelle Auslegung der bundeseinheitlichen Rechtslage und fordern die Schaffung eines interprofessionellen Gremiums „Fachliche Leitung Rettungsdienst“ für Kreise und kreisfreie Städte. Das Gremium sollte aus gleichberechtigten Partner:innen der Professionen Notfallmediziner:innen, Notfallsanitäter:innen und Rettungssanitäter:innen als Kerngremium bestehen, das ggf. um weitere Expert:innen ergänzt werden kann. 

Die Forderung nach einer Fachärzt:in für Notfallmedizin aus der vierten Stellungnahme der Regierungskommission unterstützen wir ausdrücklich. Basierend auf der neunten Empfehlung der Regierungskommission werden Notärzt:innen zukünftig nur noch bei ausgesprochen kom­plexen und kritischen Patient:innen zum Einsatz kommen. Solche Einsatzsituationen sind fach­lich in nahezu allen medizinischen Disziplinen verortbar, wodurch ein vertieftes interdiszipli­näres Wissen und Fertigkeiten bei Notärzt:innen vorhanden sein müssen. Daher wünschen wir uns, dass die zukünftige Grundlage für die Tätigkeit im Notarztdienst mindestens eine abge­schlossene Facharztausbildung in der Notfallmedizin sein wird. 

Wir freuen uns ausdrücklich über den Ansatz, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken. Dies scheint in Anbetracht der Ursachenproblematik ausgesprochen sinnvoll, wenn­gleich die Effekte erst viele Jahre nach der Einführung erkennbar sein werden. An dieser Stelle sei erwähnt, dass das in manchen Bundesländern bereits beschlossene Reanimationstraining an Schulen noch immer nicht konsequent durchgeführt wird. Interventionen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz müssen stringent umgesetzt und stetig evaluiert werden, um deren Effektivität sicher zu stellen. Die Begleitung, Durchführung und Steuerung solcher Maßnahmen könnte ein neuer Aufgabenbereich für den Rettungsdienst und die Rettungswissenschaften im Sinne einer Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention sein. 

Ergänzend möchten wir auf die häufige Nutzung des Begriffs „Präklinik“ als Synonym für den Rettungsdienst in der Empfehlung hinweisen. Dieser Begriff suggeriert, dass rettungsdienst­liche Aktivitäten nur die Vorstufe der klinischen Versorgung sind. Das ist bereits heute nicht mehr der Fall. Etwa 15-25 % der rettungsdienstlichen Versorgungen enden nicht mehr in der Klinik und mit der Umsetzung dieser Empfehlung wird sich die rettungsdienstliche Versorgung noch weiter von der klinischen Behandlung abkoppeln. Daher wäre auch eine entsprechend angepasste Begriffsbenutzung wünschenswert [4]. 

Wir freuen uns über die Reformvorschläge und bieten an, bei deren Konkretisierung, Imple­mentierung und Evaluation aktiv mitzuwirken. 

Quellen:

  1. Aiken LH, Clarke SP, Cheung RB et al (2003) Educational Levels of Hospital Nurses and Surgical Patient Mortality. JAMA 290:1617–1623. https://doi.org/10.1001/jama.290.12.1617
  2. Aiken LH, Sermeus W, Van Den Heede K et al (2012) Patient safety, satisfaction, and quality of hospital care: Cross sectional surveys of nurses and patients in 12 countries in Europe and the United States. BMJ (Online). https://doi.org/10.1136/bmj.e1717
  3. Fachverband Leitstelle (2022) Positionspapier 2022 zu den zukünftigen Schwerpunkten der Verbandsarbeit. https://www.fvlst.de/wp-content/uploads/2022/01/FVLST-Positionspapier-2022.pdf
  4. Hofmann T, Bechmann S (2023) Begrifflichkeiten im Rettungsdienst: Wortbedeutungen in einem sich wandelnden Berufsfeld. In: Prescher T, Bauer C, Dubb R, et al (Hrsg) Rettungswissenschaft, 1. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart, S 45–56
  5. Hofmann T, Macke M (2020) Berufstreue von angehenden Notfallsanitäter*innen: Eine Befragung von Auszubildenden über den Berufsverbleib, 1. Aufl. Deutsche Gesellschaft für Rettungswissenschaften e. V., Aachen. https://www.dgre.org/download/508/
  6.  Lehweß-Litzmann R, Hofmann T (2022) Fachkräftenachwuchs für den Rettungsdienst? Wie auszubildende Notfallsanitäter:innen ihre berufliche Zukunft sehen. Göttingen. https://sofi.uni-goettingen.de/fileadmin/Working_paper/WorkingPaper_Lehwess-Litzmann_Hofmann_2022.pdf
  7. Morioka N, Okubo S, Moriwaki M, Hayashida K (2022) Evidence of the Association between Nurse Staffing Levels and Patient and Nurses’ Outcomes in Acute Care Hospitals across Japan: A Scoping Review. Healthcare (Switzerland). https://doi.org/10.3390/healthcare10061052